Evde – Am Haus

Textinstallation "Am Haus" am Rio-Reiser-Platz, 2022 (Foto: Michael Bienert)
Textinstallation „Am Haus“ am Rio-Reiser-Platz, 2022 (Foto: Michael Bienert)

Babylonisches Kreuzberg (1994/2023)

Ein Fast-Food-Laden in der Oranienstraße verspricht „Fried Days for Future“, ein Naturkosmetikladen heißt „Rote Lippen“ und eine Weinhandlung „Schöner Trinken“. Der Wettstreit um die originellste Geschäftsbezeichnung steigert sich am Rio-Reiser-Plat zu einem Feuerwerk der Typographien. Unter dem betagten Schriftzug „Möbel-Klitzke“ nistet das linke Antiquariat „Müßiggang“ gleich neben dem Esoterikbedarfsladen „Mondlicht“. Das „Hanf-Haus“ mit seinen handgemalten Schriftzug scheint einem Seyfried-Comic entsprungen. Neben dem Bioladen „Kraut & Rüben“ wirbt die Bar „Jenseits“ für ihr „Breakfast“ und ein Haus weiter locken koreanische Schriftzeichen ins „Angry Chicken“.

Babylonisch ist auch der Sound des Platzes, der bis 2022 Oranienplatz hieß. Den Krach der Autos, Busse und Hochbahnen grundiert ein Stimmengewirr aus den umliegenden Lokalen: Türkisch, Englisch, Deutsch, Arabisch. Über einer Markise mit Weißbierreklame schmücken türkischen Wortendungen eine Eckhausfassade. Mit den Schriftzügen „-miş“, „-müş“ , „-mişiz“ fängt es an und steigert sich über viele Variationen bis zum lautmalerischen „-müşmüşüz“, „-mişmişsin“ und „-müşlerdi“.

Die stumme Sprachmusik an der Oranienstraße 18 geht auf die 1949 in Istanbul geborene Künstlerin Ayşe Erkmen zurück. Ihre Installation „Evde – Am Haus“ entstand 1994 als Teil einer Ausstellung „Işkele“, was mit „Landungssteg“ zu übersetzen wäre. Mit den zahlreichen Wortendungen einer Verbkonjugation wies die Künstlerin auf einen besonderen Reichtum ihrer Muttersprache hin. Türkischkundige konfrontiert sie im Kreuzberger Sprachengewirr überraschend mit grammatischen Nuancen. Unkundige sehen sich einer ganz fremden Ausdrucksweise gegenüber, als wären sie selbst eben eingewandert. Ursprünglich als temporäre Installation geplant, ist das türkisch beschriftete Haus zu einem Wahrzeichen des migrantischen Kreuzberg geworden.

© Text und Fotos: Michael Bienert / Erstdruck: Tagesspiegel vom 28. Mai 2023